Hoher Zeitdruck, viel Verantwortung, emotionale Belastung und gesundheitspolitische Frustration: Viele Ärztinnen und Ärzte fühlen sich ausgebrannt. Psychosomatiker und Psychotherapeut Dr. Christian Messer erklärt, warum Selbstfürsorge kein Egoismus ist – und was Praxen und Politik zur Entlastung beitragen können.
Stress, Erschöpfung und depressive Verstimmungen gehören für viele Ärztinnen und Ärzte zum Alltag. Laut einem aktuellen Medscape-Report fühlen sich 27 Prozent zumindest zeitweise ausgebrannt, fünf Prozent berichten von Depressionen, zwölf Prozent sogar von beidem. Dr. Christian Messer, Psychosomatiker und Psychotherapeut aus Berlin, überrascht das nicht. Der erste Vorsitzende von MEDI Berlin-Brandenburg sagt: „Wir arbeiten in einem sozialen Beruf. Wer sich für andere engagiert, stellt die eigenen Bedürfnisse häufig zurück – das gehört gewissermaßen zur Berufsidentität.“
Das Hamsterrad als Warnsignal
Diese Haltung hat Schattenseiten. Messer spricht von der „Altruismusfalle“: „Wenn Ärztinnen und Ärzte das Gefühl haben, im Hamsterrad zu laufen, ist das spätestens der Moment, etwas zu verändern.“ Zu den wichtigsten Warnsignalen zählen für ihn der Verlust von Freude an der Arbeit und das Gefühl, nur noch Pflichten abzuarbeiten. Dann müsse man Grenzen setzen – auch bei der täglichen Arbeitszeit und den Patientenzahlen. „Denn wenn ich selbst erschöpft bin, nutze ich auch den bislang versorgten Patientinnen und Patienten nichts“, gibt Messer zu bedenken. Weitere Ursachen für Überlastung liegen aber auch im pauschalierten Vergütungssystem, das Leistungserbringer in eine Spirale aus Fallzahlen, Punkten und Budgets zwingt. „All das löst Stress aus und ist Gift für die Qualität der Arbeit – ein toxischer Mechanismus“, sagt Messer. Das Resultat: Frust, Überforderung und der Eindruck, nie genug leisten zu können. Daher brauche es neben individuellen Strategien auch politische Reformen: „Solange die Logik von Fallzahlen und Punktwerten gilt, wird es schwer, nachhaltig Stress zu reduzieren.“
Nur wenige suchen therapeutische Unterstützung
Laut Medscape-Report setzen die meisten Ärztinnen und Ärzte auf private Strategien: Jeweils rund zwei Drittel verbringen Zeit mit Familie und Freundinnen und Freunden, mit Hobbys wie Lesen, Kochen oder Gärtnern und mit Sport. Nur sieben Prozent suchen therapeutische Unterstützung. Für Messer ist diese vergleichsweise niedrige Zahl auch ein Hinweis auf das ärztliche Selbstbild: „Wir verstehen uns als Helfende, nicht als Hilfesuchende. Für viele ist es schwer, die eigene Praxis für einen Termin bei einer Psychotherapeutin zu verlassen.“ Wenn er Kolleginnen und Kollegen behandelt, die er als sehr leistungsorientiert wahrnimmt, setzt er oft auf das Bild des Motors, der überdreht und deswegen nicht optimal läuft. „Es gibt auch bei uns Menschen quasi eine optimale Drehzahl – und sie liegt nicht im hochtourigen Bereich.“ Er plädiert für eine gesunde Balance zwischen Fürsorge für die Patientinnen und Patienten auf der einen und Selbstfürsorge auf der anderen Seite. „Sonst ist die eigene Leistung nicht optimal – auch was Diagnostik
und Therapie angeht.“
Die Praxis als Ort der Zufriedenheit
Kurzfristig können Praxen außerdem an ihren internen Abläufen arbeiten. Messer empfiehlt, gemeinsam mit dem Team über Arbeitszeiten, Urlaubsregelungen und die Verteilung von Aufgaben zu sprechen: „Eine Praxis ist nicht nur ein Unternehmen, sondern auch ein Ort, an dem Zufriedenheit entsteht – für Ärztinnen, Ärzte und MFA.“ Dazu gehöre auch, den Mut zu haben, die Praxis einmal für zwei Wochen zu schließen. Seine persönliche Strategie im Umgang mit Stress und emotionaler Belastung beschreibt Messer so: „Es gibt da einen alten psychotherapeutischen Spruch: In jeder gelungenen Patiententherapie steckt auch ein Stück Selbsttherapie.“ Wenn er mit seinen Patientinnen und Patienten über Selbstfürsorge spricht, erinnert ihn das automatisch auch an seine eigenen Bedürfnisse.
Sein Fazit: Ärztinnen und Ärzte müssen lernen, sich nicht allein über ihre Leistungsfähigkeit zu definieren. „Selbstfürsorge ist keine Schwäche, sondern Voraussetzung dafür, dass wir unsere Arbeit mit Freude und Qualität tun können. Wenn es gelingt, das Hamsterrad rechtzeitig zu stoppen, profitieren am Ende alle – das Team, die Ärztinnen und Ärzte selbst und nicht zuletzt auch die Patientinnen und Patienten.“
Antje Thiel

