Als Frauenärztin kannte Dr. Bärbel Grashoff Brustkrebs lange ausschließlich aus der Behandlerperspektive. Dann erkrankte sie selbst und merkte: Fachwissen allein reicht nicht aus, um die Diagnose zu verarbeiten. In ihrer Graphic Novel “Das Ende der Unversehrtheit“ verknüpft sie persönliche Erfahrungen mit medizinischem Wissen und macht komplexe Fakten durch Visualisierung verständlich.
Jede achte Frau in Deutschland erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Und vor drei Jahren war Dr. Bärbel Grashoff aus Ulm auf einmal eine von ihnen. Als Gynäkologin kannte sie sich aus mit Brustkrebsklassifizierung, Lymphknotenbefall, Tumor grading, intrinsischen Subtypen und Rezidivraten. Doch auf ihre emotionale Reaktion auf die Diagnose war sie nicht vorbereitet. „Ich hätte gedacht, dass ich professionell reagiere, weil ich ja weiß, was das ist. Aber ich war einfach nur fassungslos“, erinnert sie sich.
Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung
Ihr fachlicher Vorsprung half nur begrenzt – das Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung war genauso präsent wie bei ihren Patientinnen. „Auch ich konnte die vielen Informationen im Gespräch gar nicht so schnell aufnehmen. Da bleibt man gedanklich an einem Satz hängen, während der Arzt schon ganz viel mehr erzählt hat.“ Als sie ein 40-seitiges Dokument mit Excel-Tabellen zu Risiken und Nebenwirkungen der Chemotherapie in den Händen hielt, fragte sie sich: „Wer soll das alles lesen und verstehen?“ Wie wichtig seriöse Informationen zum Thema Brustkrebs sind, weiß Grashoff aus ihrer Praxiserfahrung: „Ich habe tatsächlich Patientinnen verloren, die ihren Tumor lieber beim Heilpraktiker mit Schlangengift behandeln lassen wollten.“ Die Komplementärmedizin habe ihren Platz in der Therapie von Nebenwirkungen, nicht aber in der Primärtherapie, meint die MEDI-Ärztin, die auch die Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren führt. „Man muss den Frauen schon deutlich machen, dass sie eine aggressive Erkrankung haben, die auch unter Umständen eine aggressive Therapie erfordert.“
Bildergeschichte mit autobiografischen Elementen
Das Ratgeber-Sortiment im Buchhandel überzeugte Grashoff allerdings ebenso wenig wie die Endlos-Tabellen der Fachwelt: „Das war wohl die Initialzündung für mein Buch. Ich hatte einfach das Gefühl, Frauen brauchen noch ein anderes Format. Neben harten Fakten und der Betroffenheitsliteratur, die auch ihren Stellenwert hat. Aber und vor allem keine langen Texte, denn das packt man in so einer Situation einfach nicht.“ Also beschloss die Gynäkologin, selbst ein medizinisch korrektes, aber einfach verständliches Buch über Brustkrebs zu schreiben. Sie stieß zufällig auf das Format der Graphic Novel und staunte über die erzählerische Kraft der im Comic-Stil gezeichneten Geschichten. Gemeinsam mit der befreundeten Illustratorin Marie Luisa Kerkhoff entwickelte sie die Graphic Novel „Das Ende der Unversehrtheit“ – eine Bildergeschichte, die neben autobiografischen Elementen auch Erfahrungsberichte anderer betroffener Frauen aus ihrer Praxis enthält und die das Ganze mit medizinisch fundierten Informationen verbindet. Erzählt wird die Geschichte von zwei betroffenen Frauen. Beide haben Brustkrebs im frühen Stadium, durchlaufen aber eine völlig unterschiedliche Therapie. Im Hauptteil des Sachcomics geht es darum, welche Faktoren hierfür entscheidend sind, was den Charakter einer Brustkrebserkrankung aus macht und wie ärztliche Entscheidungen getroffen werden. Das Buch kann übrigens von zwei Seiten gelesen werden: Einmal gewendet, befasst es sich mit der Früherkennung. Enthalten ist darin auch eine Anleitung zur Selbstuntersuchung.
Niederschwelliger Zugang zu einem komplexen Thema
Der Entstehungsprozess war intensiv: Kerkhoff erarbeitete zunächst ein riesiges Themenplakat mit allen wichtigen Aspekten. Grashoff formulierte die Texte, die Illustratorin setzte sie visuell um. Zwei Jahre lang tauschten sich die beiden Frauen wöchentlich über Telefon und Video aus, überarbeiteten Texte und Bilder, passten die Dramaturgie an. Über ihr Werk sagt Grashoff: „Der Aufwand war riesig, aber die empathische Zusammenarbeit hat sich gelohnt. Man kann das Buch in anderthalb Stunden lesen und ist erstmal gut vorinformiert, es ist ein ganz niederschwelliger Zugang zum Thema.“ Die Arbeit an ihrer Graphic Novel und die Sprache der Bilder halfen ihr aber auch bei der Verarbeitung ihrer eigenen Diagnose: „Ich denke da an das Bild mit dem Tumor, der breitbeinig im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt und sich Kaffee und Kuchen servieren lässt.“ So empfand sie ihren eigenen Tumor in der Anfangsphase. Mittlerweile hat sie für ihn ein anderes Bild gefunden: „Der ist im Keller eingelagert und wird nur alle drei Monate zur Nachsorge hochgeholt.“
Offen mit der Erkrankung umgehen
Denn aus medizinischer Sicht hatte Grashoff Glück: Ihr Tumor hatte noch nicht gestreut, sie benötigte neben der Operation lediglich Bestrahlung und im Anschluss eine langfristige Antihormontherapie, die mögliche Schläferzellen deaktivieren soll. Doch auch mit ihrer vergleichsweise milden Brustkrebsvariante erlebte sie die Nebenwirkungen hautnah. „Fatigue als Nebenwirkung der Bestrahlung hatte ich vorher nicht so ernst genommen. Aber wenn sie einen übermannt, geht wirklich gar nichts mehr.“ Als Selbstständige konnte sie allerdings sich keine lange Auszeit nehmen. Nicht zuletzt deshalb entschied sich Grashoff ganz bewusst, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen. „Ich hätte das gar nicht geheim halten können, das wäre ein Riesenstress gewesen. Und ich habe ja nichts verbrochen – es ist sozusagen schicksalhaft über mich gekommen.“ Darüber hinaus reagieren viele Patientinnen aber auch dankbar, wenn sie sehen, dass ihre Ärztin selbst betroffen war und heute gesund weiterlebt und im Alltag präsent ist.
Antje Thiel


