„Deeskalation beginnt nicht an der Anmeldung, sondern schon bei der Terminvergabe“

30. Juli 2025

Eine aktuelle MEDI-Umfrage zeigt: In immer mehr Praxen gehören verbale oder sogar körperliche Übergriffe zum Alltag. MEDI richtet aus diesem Grund eine Melde-Plattform für anonyme Gewalt ein. Zudem bietet der Ärzteverband ein neues Fortbildungsangebot für Medizinische Fachangestellte (MFA) an. Kommunikationsexpertin Susanne Sanker zeigt, wie Praxisteams mittels guter Praxisorganisation und empathischer Kommunikation Konflikte frühzeitig erkennen, professionell entschärfen – und oft sogar ganz vermeiden können.

Die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage unter MEDI-Mitgliedern sind alarmierend: Zwei Drittel der Praxen berichten von verbaler Gewalt, jede sechste sogar von körperlichen Übergriffen. MEDI fordert daher zum einen eine Erweiterung des Paragrafen 115 Absatz 3 des Strafgesetzbuches, damit der besondere strafrechtliche Schutz für den Rettungsdienst und ärztlichen Notdienst auch für medizinisches Personal außerhalb der Notfallversorgung in den Arztpraxen gilt. Darüber hinaus richtet der Verband aktuell eine Melde-Plattform für anonyme Gewalt ein und gibt seinen Mitgliedern kommunikatives Rüstzeug an die Hand, damit Konflikte mit Patientinnen und Patienten in den Praxen erst gar nicht eskalieren.

Ende Juni 2025 fand das erste MEDI-Deeskalationstraining für MFA mit 31 Teilnehmenden statt. Ein zweites, bereits ausgebuchtes, Training wird es im September geben, und auch für 2026 sind weitere Fortbildungstermine geplant.

Rollenspiele und der Blick durch die Patientenbrille

In diesen Trainings geht es allerdings nicht darum, MFA auf die physische Selbstverteidigung in heiklen Situationen vorzubereiten. „Wir üben Kommunikation – nicht körperliche Gegenwehr“, stellt Kursleiterin Susanne Sanker von Das Praxismanagement | Sanker & Eckmann GbR klar. Sie unterstützt als Praxismanagerin, Datenschutzexpertin, Beraterin und ausgebildete Kommunikationstrainerin seit über 30 Jahren Arztpraxen, Apotheken und Unternehmen im Gesundheitswesen in ihren praktischen und administrativen Tätigkeiten. Sanker weiß: „Deeskalation beginnt nicht erst an der Anmeldung, sondern schon bei der Terminvergabe.“

Tatsächlich berichten ihr MFA regelmäßig, dass Patientinnen und Patienten in erster Linie unzufrieden mit langen Wartezeiten sind – und zwar Wartezeiten in der Telefonschleife, Wartezeiten auf einen Termin ebenso wie Wartezeiten in der Praxis selbst. „Da staut sich schon Frust auf, bevor sie überhaupt die Praxis betreten haben.“ Wenn man als Praxis online und telefonisch gut erreichbar ist und zudem kurze Wartezeiten bietet, kann man sich diesen Patientenfrust ersparen: „Dann hat man den meisten Leuten schon den Wind aus den Segeln genommen“, meint Sanker.

Sie lädt die Kursteilnehmenden daher immer wieder dazu ein, selbst einmal die Patientenbrille aufzusetzen: „Wie fühlt sich der erste Kontakt an? Wie freundlich werde ich begrüßt? Wie verständlich ist mein Weg durch die Praxis? Wer diese Reise gut organisiert, beugt Konflikten vor.“ Dabei geht es um die telefonische Erreichbarkeit: Ein KI-gestützter Telefonassistent ist laut Sanker besser als keine Erreichbarkeit. Es geht aber auch um die Auswahl der Zeitschriften im Wartezimmer, das Alter der ausliegenden Flyer und um die Praxisdeko. Und natürlich um die Prozesse während eines Praxisbesuchs, die für Patientinnen und Patienten möglichst transparent und nachvollziehbar sein sollten.

Umgang mit verschiedenen Patiententypen

Im weiteren Verlauf ihrer Seminare arbeitet Sanker mit konkreten Fallbeispielen und lässt die Teilnehmenden unter stressfreien Bedingungen im Rollenspiel verschiedene Kommunikationsstrategien üben. „Wir sprechen über die unterschiedlichen Typen von Patientinnen und Patienten: die aggressiven, die ängstlichen, die Besserwisser oder die Vielredner – und wie man auf sie reagieren und auf diese Weise mitentscheiden kann, wie sie sich als nächstes verhalten.“

In der Regel hätten alle MFA sofort ein Bild vor Augen, wenn sie an Menschen denken, die schon mit rotem dicken Kopf die Praxis betreten und anfangen zu brüllen. Oder an die Ängstlichen und Schüchternen, die sich in der Praxis kaum äußern, aber später einen negativen Kommentar in einem Bewertungsportal hinterlassen. Oder an die Besserwisser, die alle Symptome längst gegoogelt haben und nur noch eine Bestätigung ihrer Recherche oder ein Rezept wollen. Oder an die Vielredner, die ohne Punkt und Komma sprechen und von allein kein Ende finden.

Patientenfrust nicht persönlich nehmen 

Die Kommunikationstrainerin vermittelt in ihren Seminaren, dass MFA in Situationen mit Konfliktpotenzial nicht persönlich, sondern in ihrer Rolle angegriffen werden. „Der Frust richtet sich nicht gegen sie als Mensch, sondern gegen das System. Das muss man klar trennen lernen. Man muss Profi genug sein, das nicht persönlich zu nehmen“, rät Sanker.

An den Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems könne die MFA zwar persönlich nichts ändern, wohl aber an ihrem Umgang mit den Patientinnen und Patienten: „Man muss bedenken, warum Patientinnen und Patienten in eine Praxis kommen: Sie gehen nicht ins Kino, nicht ins Restaurant. Sie haben Schmerzen, kommen nicht freiwillig, da entstehen besondere Empfindlichkeiten. Wenn ich ihnen mit Respekt und Empathie begegne, kann ich die Kuh vom Eis holen.“

Gleichzeitig braucht es in einer Praxis Strukturen, die Mitarbeitende schützen. „MFA sind die Visitenkarte jeder Praxis – sie bekommen alles als Erste ab“, erklärt Sanker. Menschen, die an der Anmeldung ihren Frust an den MFA auslassen, seien im Sprechzimmer beim Arzt oder der Ärztin in der Regel höflich und bedankten sich. „Deshalb wünschen sich MFA natürlich Chefs, die sich nicht verkriechen, wenn es vorne laut wird, sondern Haltung zeigen.“

Mit vereinbarten Codes um Hilfe bitten

Dazu gehört unter anderem, dass innerhalb des Teams auch für den Umgang mit heiklen Situationen die Kompetenzen eindeutig geklärt sind. „So etwas kann man wunderbar im QM-Handbuch festhalten“, meint Sanker. Welche Fälle können eintreten? Welchen Handlungsspielraum haben die einzelnen Teammitglieder? Ab welchem Punkt darf auch eine MFA eine Patientin oder einen Patienten bitten, die Praxis zu verlassen?

Für die Kommunikation der MFA untereinander empfiehlt die Kommunikationstrainerin standardisierte Codes. „Wenn eine Situation aus dem Ruder läuft und man der Kollegin sagen möchte, dass sie den Chef holen oder die Polizei rufen soll, kann man das mit einem vereinbarten Code signalisieren, etwa ‚Kannst du mir kurz mal die Akte von Marko Hauser bringen?‘“

Sanker ist allerdings fest davon überzeugt, dass Konflikte und Eskalationen in den meisten Fällen vermeidbar sind. „Patientinnen und Patienten spüren die Stimmung in der Praxis, sobald sie zur Tür hineinkommen. Sie merken schnell, ob das Team harmoniert und alle an einem Strang ziehen.“ Deshalb sieht sie die Trainings auch als Beitrag zur Aufwertung des Berufsbilds von MFA. „Wenn sie kompetent und souverän auftreten, steigt auch die Akzeptanz durch die Patientinnen und Patienten.“ Hierfür braucht es gute Organisation, verlässliche Abläufe, Telefontrainings, Kommunikationstrainings und ein funktionierendes Team. „Deeskalation ist das letzte Glied in einer ganzen Kette von Maßnahmen.“

Wie man in den Wald hineinruft 

Das Feedback nach dem ersten MEDI-Training war eindeutig: Die Teilnehmenden fühlten sich gestärkt und motiviert. „Fortbildung bringt nicht nur neue Impulse, sondern oft auch neue Freude am Beruf“, sagt Sanker. Oft gelinge es nach einem Seminar leichter, alte Strukturen und Prozesse zu überdenken und mit der Patientenbrille durch die Praxis zu gehen. „Und wenn man dann alles auf sich wirken lässt, kann man sich fragen, was man mit wenigen Handgriffen tun kann, um die Patientenreise angenehmer zu gestalten.“

Doch ihre allerwichtigste Botschaft lautet: „Lächeln! Wenn mein Gesichtsausdruck Motivation, Freundlichkeit und Zugewandtheit ausdrückt, kann das jede Konfliktsituation entschärfen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es hinaus.“

Das MEDI-Fortbildungsprogramm finden Sie hier.

 

Antje Thiel

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