„Die Spieße nach außen richten, nicht nach innen“

 

Der Psychologische Psychotherapeut Dipl. Psych. Rolf Wachendorf ist Beisitzer im Vorstand von MEDI Baden-Württemberg e. V. Er ist zufrieden mit der Integration seiner Fachgruppe ins vertragsärztliche System und meint: Was jetzt noch fehlt, ist die regionale Versorgungsverantwortung.

Der berufliche Werdegang, auf den Rolf Wachendorf zurückblickt, ist nicht frei von Schlenkern und Umwegen. Ausbildung zum Versicherungskaufmann mit 17 Jahren, Abitur über den zweiten Bildungsweg, selbst finanziertes Studium der Psychologie neben der Berufstätigkeit. Umso geradliniger entwickelte sich seine klare politische Haltung bereits in jungen Jahren. „Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Mensch, der sich dafür interessiert, wie die Welt funktioniert, und der sich einbringen mag. Man braucht Strukturen, die gut sind für die Menschen“, beschreibt der Psychotherapeut seine durch die 68er Jahre geprägte Haltung. „Ich habe bereits während meiner Lehre eine Gewerkschaftsgruppe gegründet. Das war recht mutig, denn damals war es für Lehrlinge nicht üblich aufzumucken. Es war eine andere Zeit – aber eine gute Zeit, um die politische Wahrnehmung zu schärfen.“

Zeit für Reisen und Abenteuer

Es war aber auch eine gute Zeit für Reisen und Abenteuer. Wachendorf war gerade 18 Jahre alt, als er mit Freunden im VW-Bus für sechs Wochen nach Afghanistan aufbrach. „Mein Kumpel hatte einen Aufsatz darüber gelesen. Daraufhin beschlossen wir einfach spontan, dorthin zu fahren“, erinnert er sich. Afghanistan war 1971 noch ein Königreich, die Reise dorthin führte die jungen Männer durch die Türkei und den Iran. „Unsere Eltern waren sehr nervös, wir mussten ihnen hoch und heilig versprechen, überall die deutsche Botschaft aufzusuchen.“ Auch in den arabischen Raum verschlug es Wachendorf in jungen Jahren: „Ich habe während des Studiums als Lastwagenfahrer gejobbt und verschiedene Materialien zum Beispiel nach Algerien gefahren, das war schon abenteuerlich.“ Er unternahm ausgedehnte Reisen in fast alle Winkel dieser Welt, absolvierte Überlebenstrainings und war bis zu seinem 30. Lebensjahr, als er zum ersten Mal Vater wurde, jedes Jahr mindestens zwei Monate lang irgendwo im Ausland unterwegs.

Die Familiengründung – Wachendorf hat insgesamt fünf Kinder und mittlerweile auch vier Enkelkinder – empfand er als mindestens ebenso abenteuerlich wie seine weltumspannenden Reisen. „Es war eine sehr fordernde Zeit bis die Kinder aus dem Haus waren“, erinnert er sich, „doch danach hatte ich auf einmal Energie auch für andere Dinge.“ Der Psychologische Psychotherapeut – seit 1985 in Esslingen niedergelassen – wandte sich der Berufspolitik zu. Denn die Strukturen, die ihn in seiner Arbeit umgaben, empfand er als ungerecht.

Auf Augenhöhe mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen

Schließlich war seine Fachgruppe seinerzeit nur indirekt im KV-System vertreten. „Wir brauchten immer einen Psychiater, also einen ärztlichen Psychotherapeuten, der die Delegation unterschrieben hat“, erklärt Wachendorf. Die Zusammenarbeit gelang je nach Region unterschiedlich gut. Doch Wachendorf war mit dem System des Delegationsverfahrens grundsätzlich nicht einverstanden: „Ich fand es ungerecht, wir wollten den ärztlichen Kollegen auf Augenhöhe begegnen und nicht von ihnen abhängig sein.“ Die Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wollten als gleichwertige Mitglieder ins KV-System aufgenommen werden und entsprechend eine eigenständige Erlaubnis haben, Patientinnen und Patienten zu behandeln und die hierfür geeignete Methode auszuwählen.

Das Ringen um die Integration in die vertragsärztliche Versorgung als gleichberechtigte Mitglieder der Selbstverwaltung war erfolgreich: Seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 können Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ihre Patientinnen und Patienten auch ohne ärztliche Anweisung behandeln. Zudem können sie seither über die KV mit den Krankenkassen abrechnen. „Die meisten Kollegen wissen das schon gar nicht mehr, aber das war ein großer Erfolg, dass wir das erreicht haben“, meint Wachendorf, der bereits kurze Zeit nach der Integration der Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ins KV-System bei MEDI seine berufspolitische Heimat fand. Er gehört zu den Gründern von MEDI Baden Württemberg. Es imponierte ihm, dass die MEDI-Spitze sich quasi unmittelbar nach Gründung des Verbands so deutlich für die Aufnahme seiner Fachgruppe in ihre Reihen aussprach. „Als ich angesprochen wurde, war ich neugierig und erklärte mich schnell bereit mitzumachen“, erzählt er und lobt den fairen und anständigen Umgang miteinander innerhalb des Verbands.

Stabile Honorare in der Regelversorgung dank MEDI

Die Zusammenarbeit bei MEDI könnte nicht besser sein, findet er und betont: „Die Skepsis gegenüber den Psychotherapeuten ist in der Ärzteschaft nicht mehr da.“ Spätestens seit der Ausbudgetierung der Psychotherapie gebe es auch keine Stimmen mehr, die seiner Fachgruppe vorwerfen, ihnen Honorare streitig zu machen. „Sich an den Töpfen der anderen zu bereichern, ist KV-typischer Verteilungskampf“, meint Wachendorf. Bei MEDI hingegen gelte immer: „Die Spieße nach außen richten, nicht nach innen.“ Die Fachgruppen machten nicht einander die Töpfe streitig, sondern kämpften für zusätzliches Geld im System. Das KV-System habe zwar andere Regeln, „aber MEDI hat auch innerhalb der KV für mehr Solidarität gesorgt. Kein Berufsverband hat mehr für meine Fachgruppe getan als MEDI. Wir Psychotherapeuten verdanken MEDI deshalb auch in der Regelversorgung stabile Honorare.“

Letztlich sei MEDI ja auch nichts anderes als eine gewerkschaftliche Organisation. „Wir versuchen unsere Durchschlagkraft zu erhöhen, um unsere Interessen durchzusetzen“, sagt Wachendorf, der mit seinem Engagement bei MEDI an das gewerkschaftliche Engagement in seiner Jugend anknüpfen kann. Doch das ist für ihn nicht die einzige Parallele zu seinen frühen Jahren: „Auch die Berufspolitik ist ja in gewisser Weise eine Art Überlebenstraining“, schmunzelt Wachendorf.

An Gelegenheiten, sein eigenes Überleben und das seiner Fachgruppe zu verteidigen, mangelte es ihm in den vergangenen mehr als zwei Jahrzehnten nicht. Und auch nicht an Ämtern und Mandaten: Vorstandsmitglied bei MEDI, dreimaliger Berichterstatteter im Vorstand der KV Baden-Württemberg, Mitglied der Landespsychotherapeutenkammer in der Vertreterversammlung oder in der Bundespsychotherapeutenkammer. Doch damit nicht genug: Wachendorf ist einer der Gründer des Berufsverbands Freie Liste der Psychotherapeuten, die sich über die Jahre als Interessenvertretung in der Selbstverwaltung und Kammer fest etabliert hat.

Facharztverträge sind gut etabliert

Als einen der größten Erfolge seiner politischen Arbeit wertet Wachendorf die Einführung des Facharztvertrags nach § 73c SGB V zur besseren Versorgung in den Fachbereichen Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie (PNP). Nach einem 2009 gestarteten Pilotprojekt mit seiner Praxis in Esslingen war der Vertrag 2012 dann unterschriftsreif. „Anfangs gab es großen Widerstand von den Verbänden der überwiegend psychoanalytisch tätigen Psychotherapeuten“, erinnert sich Wachendorf. „Die behaupteten, eine Kurzzeittherapie schade den Patienten.“ Dabei sei mittlerweile gut belegt, dass viele psychisch Kranke durchaus von einer Kurzzeittherapie profitieren. Erst mit der Zeit legte sich die Skepsis seiner Kolleginnen und Kollegen. „Es gibt heute keinen offenen Widerstand mehr, das ist alles Geschichte. Die Verträge sind gut etabliert. Wir kommen auf über 1.000 Psychotherapeuten, für die sie ein zweites Standbein sind, manche rechnen sogar fast ausschließlich über die Verträge ab“, berichtet er.

Aus seiner Sicht hatten die Selektivverträge tatsächlich etwas Revolutionäres: „Das hat Leute angezogen, die über den Tellerrand gucken.“ Diese Aktiven habe man rechtzeitig in die KV- und MEDI-Strukturen integriert, „die haben sich eingelebt, da gab es immer wieder Nachwuchs“, sagt Wachendorf. Alle anderen ärztlichen und psychotherapeutischen Berufsverbände litten unter eklatantem Nachwuchsmangel. Über die Listen von MEDI hingegen gelangten gut eingearbeitete Leute ins System, die kein Interesse an verkrusteten Strukturen haben. „Junge Leute wiederum kommen über die Selektivverträge, die ihnen gutes Geld für gute Leistungen bieten, zu MEDI und werden dann politisch sozialisiert“, beschreibt er die Nachwuchsgewinnung.

Fehlende Steuerung in der Psychotherapie

Inzwischen hat Wachendorf sich aus allen KV-Ämtern zurückgezogen, um Platz für die jüngere Generation zu machen. „Auch bei MEDI werde ich nicht mehr ewig im Vorstand bleiben“, kündigt der 70-Jährige an. „Ich ziehe mich sukzessive zurück – doch noch treibt mich an, dass ich ein großes Projekt betreue.“ Damit gemeint ist die geplante Gründung der Kreispsychotherapeutenschaft, die Verantwortung für die regionale Versorgung übernehmen soll. Denn für Wachendorf ist klar: „Dass es Wartelisten in der Psychotherapie gibt, liegt nicht an der Zahl der Psychotherapeuten, sondern an fehlender Priorisierung.“ Anders als in der ärztlichen Versorgung gebe es in der Psychotherapie keine Steuerung. „Wir haben kleine Praxen, keine Wartezimmer und generell eine Kultur, in der wir niemanden wegschicken.“ Um Versorgungsverantwortung übernehmen zu wollen, brauche man eine Organisation auf Kreisebene, „eine Art psychotherapeutische Notfallversorgung, wie es sie auch in der ärztlichen Versorgung gibt. Wenn die Notfallpatienten versorgt sind, können wir uns um weniger dringliche Patienten kümmern.“ Damit würde man vor allem auch die psychisch kranken Menschen entlasten, die derzeit mit der Suche nach einem Psychotherapieplatz heillos überfordert sind. „Eine Telefonnummer, eine Website, eine Telefonnummer. Das würde die Versorgung noch wesentlich verbessern“, meint Wachendorf.

Er selbst würde allerdings allenfalls noch in eingeschränktem Umfang in dieser neu organisierten Versorgung arbeiten: „Therapeutisch arbeite ich nicht mehr so viel, drei halbe Tage pro Woche bin ich noch im Einsatz – und ich hoffe, dass ich noch eine Weile geistig und körperlich fit bleibe, um weiter meinen Job auszuüben.“ Zusammen mit Praxisorganisation und Berufspolitik kommt er aktuell auf etwa 30 Wochenstunden Arbeit, „früher waren 70 Stunden das Normale. Aber wenn das Geldverdienen nicht mehr wichtig ist, gibt es so viel anderes, mit dem man sich beschäftigen kann!“ Am liebsten verbringt er die freie Zeit mit seiner Familie: „Es ist schön zu sehen, dass die Kinder und Enkel auf einem guten Weg sind.“ Daneben ist Wachendorf häufig in der freien Natur anzutreffen: „Ich gehe jeden Tag eine Stunde mit dem Hund raus, ab dem Frühjahr bin ich auch jede Woche einmal zum Segeln am Bodensee.“ Der Familienhund ist ein Australian Shephard und hört auf den Namen ‚Boje‘, „wegen meiner Segelaffinität. Beim Segeln komme ich zur Ruhe, komme aber auch gut mit Gegenwind klar.“ Und wieder schließt sich der Kreis zu seinem politischen Engagement: „Man entwickelt sich anhand von Widerständen im Leben. Das ist auch das Schöne an der Berufspolitik, da gibt es viele Widerstände.“

Antje Thiel

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