„Es geht nicht um Krawall, sondern um funktionale Lösungen“

Der Allgemeinmediziner und Psychotherapeut Dr. Michael Ruland ist stellvertretender Vorsitzender von MEDI Baden-Württemberg e. V. Sein Wunsch: Tarifautonomie in der vertragsärztlichen Versorgung. Seine Sorge: die ängstliche Passivität vieler seiner Kolleginnen und Kollegen.

Es waren seine zwiespältigen Gefühle gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) als halbstaatliche Körperschaft, die Dr. Michael Ruland 1999 zum frisch gegründeten MEDI Verbund führten: „Obwohl ich die Bedeutung und das grundsätzliche Funktionieren des KV-Betriebs anerkenne, ist mir diese Staatsnähe doch suspekt“, erklärt er. MEDI hingegen könne als fachübergreifende und privatrechtliche Organisation in den politischen Raum und in die Körperschaften hineinwirken, ohne deren regulatorischen Schranken unterworfen zu sein.

Dass die Organisation die Stimme erhebt und auf diesem Wege regelmäßig Sand ins Getriebe gestreut hat, wertet der 70-Jährige ebenso als Erfolg wie die etablierten, von MEDI ausgehandelten Selektivverträge. Dank dieser Verträge können teilnehmende Ärztinnen und Ärzte nicht nur strukturiert und qualitätsgesichert zusammenarbeiten, sondern auch höhere Honorare erzielen als in der budgetierten Regelversorgung. Doch das System der Selektivverträge hat auch seine Besonderheiten: „Schließlich brauchen wir auch für diese Verträge die KV, die dafür wiederum die Budgets fair bereinigen muss. Und die Kassen müssen die Mehrkosten an anderer Stelle gegenfinanzieren, ohne dass dies zulasten der Versicherten geht“, stellt der MEDI-Pionier fest.

Tarifautonomie trägt zum Erhalt des sozialen Friedens bei

Lieber wäre ihm insgeheim eine Organisation mit einer politischen Schlagkraft wie die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sie regelmäßig bei ihren Bahnstreiks unter Beweis stellt. „Doch dafür brauchen Ärztinnen und Ärzte ein Streikrecht“, betont Ruland. „Die Tarifautonomie hat in Deutschland immer zum Erhalt des sozialen Friedens beigetragen, warum sollte das nicht auf das Gesundheitswesen übertragbar sein?“ Auch Gewerkschaften wie GDL, IG Metall, Ver.di oder der Marburger Bund agierten schließlich nicht im rechtsfreien Raum. „Es geht nicht um Krawall, sondern um funktionale Lösungen. Und wir wären aufgrund unserer ethischen Verantwortung gegenüber unserem Versorgungsauftrag ohnehin eher zurückhaltend.“

Doch nach einem Jahr mit einer Inflationsrate von zehn Prozent mit einem Tarifabschluss von nur 2,8 Prozent abgespeist zu werden, würde in seinen Augen durchaus einen Arbeitskampf rechtfertigen, „zumal wir die Kostenfaktoren ja überhaupt nicht beeinflussen können“. Hinzu kommen seitenlange unverständliche KV-Abrechnungen, deren Regeln anderswo entschieden werden, wo maximale Praxisferne herrscht. „Der Frustrationslevel steigt an allen Fronten“, mahnt der MEDI-Vize. „Solange ich dabei bin, werde ich deshalb für richtige Lösungen streiten, hin zu mehr Tarifautonomie, weg von dieser dysfunktionalen Bürokratie.“ Dabei empfindet Ruland nicht nur die gemeinsame politische Arbeit bei MEDI als erfüllend: „Ich habe in diesem Kontext – und ich tue es noch – beeindruckende Menschen getroffen. Die gemeinsame Arbeit vor dem Hintergrund besonderer Beziehungen ist eine wertvolle Erfahrung, für die ich dankbar bin und bleibe.“

Infantile Ängstlichkeit im politischen Kontext

Allerdings staunt der Psychotherapeut in ihm dabei immer wieder über die Duldsamkeit seiner Kolleginnen und Kollegen sowie die ärztliche Neigung, die Selbstfürsorge zu vernachlässigen: „Diese Diskrepanz zwischen der erwachsenen verantwortungsvollen Haltung Patientinnen und Patienten gegenüber und der infantilen Ängstlichkeit im politischen Kontext – das bringe ich einfach nicht zusammen“, erzählt Ruland: „Wovor fürchten wir uns denn? Repressalien vonseiten der Selbstverwaltung, der Kostenträger oder der Politik? Eigentlich müsste es einem die eigene Würde verbieten, in einer derartigen Passivitäts-Trance zu verharren!“

Zumal Vertragsärztinnen und -ärzte schon allein aufgrund ihrer schieren Zahl die Macht hätten, bessere Rahmenbedingungen für ihre Arbeit einzufordern, findet der Allgemeinmediziner. Er erinnert an eine Protestaktion der finnischen Gewerkschaft der Krankenschwestern (TEHY) im Jahre 2007. Damals hatten 13.000 von landesweit gut 32.000 Krankenschwestern und -pflegern damit gedroht, allesamt am selben Tag zu kündigen, wenn die geforderte Lohnerhöhung ausbleiben würde. „Die finnische Regierung erwog daraufhin sogar ein Gesetz zur Legalisierung von Zwangsarbeit“, erzählt Ruland. Doch kurz vor Ablauf des Ultimatums lenkte das Regierungskommittee ein und gewährte den Krankenschwestern und -pflegern die verlangte Lohnerhöhung um 24 Prozent, wenngleich über einen Zeitraum von vier statt zweieinhalb Jahren, wie die Gewerkschaft initial gefordert hatte.

Bei viel Wind muss man Segel ausrichten und Kurs anpassen

Auch die hiesigen Vertragsärztinnen und -ärzte hätten die Macht, die Politik unter Druck zu setzen: „Denn wem beim Segeln zu viel Wind entgegenweht, der muss zwangsläufig die Segel neu ausrichten und den Kurs anpassen“, meint Ruland dazu. Sein Vergleich zum Segelsport kommt nicht von ungefähr: Seit 15 Jahren bezeichnet er sich als Marinero und verbringt viel Zeit auf dem Wasser. Daneben spielt er Tennis, dreht gelegentlich ein paar Joggingrunden und unternimmt zusammen mit seiner Frau gern ausgedehnte Reisen, von der jahrzehntelangen Liebe zur aktiven Popmusik ganz zu schweigen: Ruland hat in mehreren Bands Klavier und Gitarre gespielt und auch einen eigenen Chor gegründet. All diese Freizeitaktivitäten haben mehr Raum in seinem Leben, seit er vor zehn Jahren begann, die Arbeitszeit in seiner Praxis schrittweise zu reduzieren. Aktuell arbeitet Ruland noch halbtags: „Das macht meist Spaß, doch ich schätze auch die neugewonnene Freiheit sehr.“

Vor allem genießt er es, als Teilzeit-Ruheständler mehr Dinge als zuvor dem Zufall überlassen zu können, sich auch einmal ziellos treiben zu lassen. Als er ein junger Mann war, gab es bereits einmal eine ähnliche Phase, die er in seiner Vita als ‚Lehr- und Wanderjahre‘ aufführt. „Ich habe keine ganz geradlinige Biografie“, erzählt Ruland. Das heißt: ein Semester Informatik, gefolgt von einem Parkstudium in Chemie und diversen Praktika im Krankenhaus. „Es gab auch depressive Zeiten in dieser Findungsphase“, erinnert er sich, „doch ich habe in dieser Zeit meine spätere Frau kennen gelernt, mit der ich bis heute glücklich verheiratet bin. Das wäre ohne diese zwei Jahre nicht passiert.“ Dass seine Eltern seine zeitweilige Orientierungslosigkeit seinerzeit stoisch ertragen und ihn unbeirrt weiter unterstützt haben, nötigt ihm größten Respekt ab. Doch Ruland ist sich sicher: „Wer nach einer lückenlosen Biografie erst in späteren Jahren in eine Sinnkrise stürzt, der trägt möglicherweise schwerer die Konsequenzen.“

Antje Thiel

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