New Work in der Praxis: „Es muss ein Kulturwandel stattfinden“

In Wirtschaftsunternehmen ist überall von einem Transformationsprozess die Rede – von New Work. Dabei geht es nicht nur um Digitalisierung, sondern auch um ein neues Mindset. Es geht um Sinnhaftigkeit, flexiblere Arbeitsgestaltung, Potentialentfaltung, Work-Life-Balance und Eigenverantwortung. Muss es diese Entwicklung auch in den Praxen geben? „Definitiv“, sagt MEDI-Arzt Dr. Wolfgang von Meißner, einer der Gesellschafter der „Hausärzte am Spritzenhaus“ in Baiersbronn. Er und sein Team sind auf dem besten Weg dahin.

MEDI: Sie wurden vergangenes Jahr mit der Praxis und Ihrem Team vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung als Leuchtturmprojekt prämiert. Was unterscheidet eine moderne Praxisführung heute von der vor 30 Jahren?

von Meißner: So große Teampraxen wie unsere mit neun Ärztinnen und Ärzten und 17 MFA gab es früher nicht. Damals gab es fast nur Einzelpraxen. Und das war eher eine Männerdomäne. Heute haben wir gemischte Teams und topausgebildete MFA, VERAH®, EFA® und Physician Assistants, keine Helferinnen mehr. Und wir haben eine andere Führung mit einem großen Teamgedanken und flachen Hierarchien.

MEDI: Was sind heute die Herausforderungen?

von Meißner: Je größer eine Praxis ist, desto höher ist natürlich auch der Abstimmungsbedarf und die Meinungsvielfalt. Das muss man alles zusammenbringen. Die unterschiedlichen Charaktere sollten sich im Team ergänzen und nicht behindern. Je mehr Menschen in einer Praxis arbeiten, desto mehr Konfliktpotential gibt es natürlich. Da wir MFA heute nicht mehr handverlesen auswählen können, müssen wir in der Lage sein Mitarbeitende mit ganz unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Hintergründen im Team zu integrieren. Diversität muss auch in einer Praxis gelebt werden. Es gibt keine einfachen Hierarchien in der Praxis, sondern mehrere Einheiten, wie die angestellten Ärztinnen und Ärzte, die ärztlichen Inhaberinnen und Inhaber und die MFA mit ihren verschiedenen Qualifikationen und Bereichen. Unstrittig gibt es in einer Teampraxis mehr Reibungs- und Arbeitszeitverluste durch Kommunikation und Abstimmung. Solange der Teamgeist aber stimmt, steigt dafür die Qualität der geleisteten Arbeit. Geht der „Spirit“ aber verloren, können dafür aber die Konsequenzen umso schwerer wiegen.

MEDI: Sehr viele Wirtschaftsunternehmen befinden sich aktuell in einem Transformationsprozess. Muss es diese Entwicklung auch in den niedergelassenen Praxen geben?

von Meißner: Ja, Praxen müssen sich definitiv für die Zukunft weiterentwickeln. Auch bei uns muss ein Kulturwandel, ein „New Work“ stattfinden. Ich bin heute beispielsweise im Home-Office. Alle 14 Tage habe ich am Freitag einen flexiblen Bürotag. Unsere Ärztinnen und Ärzte haben alle unterschiedliche Zeiten – speziell für Hausbesuche und Bürotätigkeiten. Theoretisch kann diese Zeit auch für persönliche Erledigungen oder Sport genutzt werden. Die Arbeit muss natürlich gemacht werden, aber ob ich das heute oder am Sonntag erledige, bleibt mir überlassen. Wir versuchen unseren Ärztinnen, Ärzten und MFA mehr Flexibilität einzuräumen, soweit das möglich ist. Unsere MFA müssen beispielsweise im Rahmen des HZV-Vertrags telefonische Befragungen mit Patientinnen und Patienten durchführen. Das können sie sich frei einteilen. Viele machen das, wenn die Kinder abends schlafen, das ist auch für berufstätige Patientinnen und Patienten von Vorteil. Auch in Arztpraxen lässt sich einiges flexibilisieren. Gerade bürokratische Aufgaben oder auch Laborbesprechungen können von zu Hause erledigt werden. Dadurch verschwimmen natürlich auch die Grenzen zwischen privatem Bereich und Arbeit. Nicht jeder kann damit gut umgehen, deshalb sollte Home-Office immer eine Option bleiben, aber nie Verpflichtung werden.

Wie findet der Austausch im Team statt? Gibt es regelmäßige Besprechungen?

von Meißner: Es gibt einerseits den schnellen digitalen Austausch in Messenger-Gruppen für die gesamte Praxis, aber auch die Ärztinnen und Ärzte und MFA untereinander. Wenn es um datenschutzrelevante Themen geht, nutzen wir verschlüsselte E-Mails. Wir freuen uns schon auf den sicheren Praxis-Messenger garrio, der von MEDI entwickelt wird und bald auf den Markt kommt. Aber je digitaler man arbeitet, desto wichtiger sind die analogen Treffen. Wir machen jeden Tag um zehn Uhr alle gemeinsam ein Arbeitsfrühstück mit Brezeln und allem, was dazu gehört. Dienstags und donnerstags geht es dabei eher um organisatorische Dinge. Montags, mittwochs und freitags ist die Teilnahme freiwillig und wir tauschen uns über medizinische Themen aus, die uns im Praxisalltag beschäftigen

MEDI: Gibt es auch private Unternehmungen jenseits der Praxis, um den Teamgedanken zu fördern?

von Meißner: Ja, das ist ganz wichtig. Einmal im Jahr machen wir zusammen einen Praxisausflug. Fast jedes Jahr gibt es ein Fest zur bestandenen Prüfung unseres Azubis, zu einem runden Geburtstag oder Jubiläum. Die MFA machen untereinander eine Weihnachtsfeier. Wir Ärztinnen und Ärzte gehen im Herbst immer gemeinsam auf Fortbildungen. An den Tagen sind die MFA für Teambuilding-Events freigestellt.

MEDI: Wie steht es in der Praxis um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Welche Lösungen bieten Sie an?

von Meißner: Wir haben viele Teilzeitlösungen – aktuell vor allem bei den Ärztinnen und Ärzten. Wir erwarten allerdings, dass alle eine Nachmittagsschicht übernehmen. Wir haben flexible Zeiten für Hausbesuche. Die kann sich jeder so einteilen, wie es am besten passt. Es gibt bei uns – wie auch bei allen MEDI-MVZ – hundertprozentige Remote-Arbeitsplätze für die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten oder auch zum Ausdrucken der Rezepte, die dann in der Praxis landen.

MEDI: Wie würden Sie die Beziehung zwischen Arzt, Ärztin und MFA beschreiben?

von Meißner: Ein Beispiel, das es ganz gut veranschaulicht: Wir haben als Ärztinnen und Ärzte nur definiert, welche Arbeitsplätze zu welchen Zeiten besetzt werden müssen. Wir überlassen den MFA aber völlig selbstständig, wie sie das organisieren möchten. Wir mischen uns auch nicht in Arbeitszeiten oder Urlaubsplanungen ein. Das schätzen unsere MFA sehr. Auch bei der Einstellung einer neuen Medizinischen Fachangestellten entscheidet das MFA-Team mit. Natürlich gibt es Themen, vor allem medizinische, die können nur wir Ärztinnen und Ärzte entscheiden, weil wir die Verantwortung haben. Aber wir möchten immer auf Augenhöhe mit unseren MFA agieren.

MEDI: Duzen oder siezen Sie sich im Team?

von Meißner: Ich habe die Ansprachen meiner damaligen älteren Kollegen übernommen und sieze mich mit den MFA, nenne sie aber beim Vornamen, obwohl ich im Krankenhaus mich mit den Pflegekräften immer geduzt habe. Die jüngeren Ärztinnen und Ärzte duzen sich eher mit den MFA. Auch in unserer Partnerpraxis, dem MVZ in Klosterreichenbach duzen sich alle. Der Trend in der Praxis geht definitiv zum Du.

MEDI: Und wenn es dann doch mal knirscht, wie lösen Sie Konflikte im Team oder mit einzelnen Mitarbeitenden?

von Meißner: Wir haben gerade einen Coach bei uns, aber prophylaktisch, weil wir hier in der Praxis einen großen Wandel haben. Die Tochter des Senior-Praxismitbegründers kam als Ärztin ins Team der Inhaber – sie war vor dem Medizinstudium schon als MFA in der Praxis tätig. So ein Prozess und Rollenwandel kann auf verschiedenen Ebenen zu Konflikten führen. Wir möchten uns begleiten lassen, damit es gar nicht erst dazu kommt.

MEDI: Und wenn es dann doch passiert?

von Meißner: Wir haben eine offene Fehlerkultur. Es ist gut, wenn man lernt, Kritik als kostenlose Beratung zu sehen. Wir bekommen ja auch immer wieder Kritik von Patientinnen und Patienten. Das kann sehr wertvoll sein. Wir haben in unserem System schon vor vielen Jahren einen „Patienten“ angelegt, der heißt „Fehler“. So würden wir ihn heute nicht mehr nennen, eher Verbesserung oder Feedback. Das ist wie ein digitaler Kummerkasten. Dort schreiben alle Mitarbeitenden hinein, wenn etwas nicht läuft. Das wird auch von allen regelmäßig gelesen und beantwortet. Größere Kritikpunkte werden dann in den Teammeetings besprochen. Wichtig ist, darauf schnell zu reagieren und auf die MFA zuzugehen. Wenn ich aber das Gefühl habe, ich kommt in einem Konflikt nicht weiter, dann würde ich mir auch professionelle Hilfe holen.

MEDI: Gibt es den klassischen Kickertisch und Obstkorb auch in Ihrer Praxis?

von Meißner: Es gibt immer Süßigkeiten von den Patientinnen und Patienten. Und es gibt kostenlosen Kaffee aus der Profimaschine, Sprudel und im Sommer eine Lounge auf der Dachterrasse. Und natürlich unseren täglichen Frühstücksservice. Am Geburtstag hat jeder frei – in der Hoffnung, dass er oder sie am nächsten Tag einen Kuchen mitbringt. (lacht)

MEDI: Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit und Klimaschutz in Ihrer Praxis?

von Meißner: Eine zunehmend größere Rolle. Aktuell denken wir über eine Photovoltaik-Anlage für unser Dach nach. Das Gesundheitszentrum wird über eine Geothermieanlage geheizt und gekühlt. Wir trennen konsequent von Anfang an unseren Müll. Und wir setzen in unserem Lichtkonzept auf energiesparende LED-Lampen und arbeiten von jedem Arbeitsplatz direkt auf dem Server. Das heißt, wir haben keine Computer, sondern nur die Verbindungsgeräte zum Server. Das spart auch viel Energie ein. Hausbesuche machen wir nach Möglichkeit mit unserem E-Auto und unserem E-Lastenfahrrad. Gerade für die jüngeren Ärztinnen und Ärzte ist Klimaschutz ein wichtiges Thema. Sie fragen uns auch bei den Einstellungsgesprächen zunehmend, wie nachhaltig wir aufgestellt sind. Für sie ist das auch ein Kriterium, ob die Praxis zu ihnen passt.

Tanja Reiners

Social Media

Folgen Sie uns auf unseren Plattformen.

Aktuelle MEDI-Times

MEDI-Newsletter

Mit dem kostenfreien MEDI-Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über aktuelle Themen und die neuesten Angebote. Bleiben Sie mit uns auf dem Laufenden!

Die Datenschutzerklärung habe ich zur Kenntnis genommen und bin damit einverstanden.*

Auf Facebook kommentieren!

„Ohne Selektivverträge könnten wir als Praxis nicht überleben“

Die Allgemeinmedizinerin Dr. Christine Blum vertritt als Beisitzerin im Vorstand von MEDI Baden-Württemberg e. V. die Interessen der angestellten Ärztinnen und Ärzte. Sie hat sich von der Orthopädie und Unfallchirurgie verabschiedet, um die Hausarztpraxis ihres Vaters zu übernehmen – und kann sich nun keine andere Art zu arbeiten mehr vorstellen.

Psychotherapie: „Der Versorgungsbedarf wird immer größer“

Claudia Bach ist psychologische Psychotherapeutin und hat zwei Praxen in Schriesheim und Weinheim im Rhein-Neckar-Kreis mit einem großen Team von zehn angestellten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie drei Assistentinnen und einer Sekretärin für das Praxis- und Qualitätsmanagement. Seit drei Jahren engagiert sich die 37-Jährige bei Young MEDI, denn Herausforderungen für die psychotherapeutische Versorgung gibt es genug. Im MEDI-Interview erzählt Bach von der großen Unsicherheit mit der Finanzierung der Weiterbildung zur Fachpsychotherapeutin und zum Fachpsychotherapeuten, vom wachsenden Versorgungsumfang und von der zunehmenden Bürokratie.

Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz: MEDI droht mit Korbmodell

Die fachübergreifenden Ärzteverbände MEDI GENO Deutschland e. V. und MEDI Baden-Württemberg e. V. kritisieren den Referentenentwurf zum Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz des Bundesministeriums für Gesundheit, der am vergangenen Samstag bekannt wurde, scharf. Der Verband spricht von einem “Generalangriff auf den Sicherstellungsauftrag“ und kündigt an, das sogenannte Korbmodell in Erwägung zu ziehen.