„Ärzte sollten sich selbst so wichtig nehmen, wie ihre Patienten“

Seit der Coronapandemie befinden sich viele Ärztinnen und Ärzte im Dauerstress. Aber wie kommt man aus dem Modus wieder raus? Und warum fällt es gerade der Ärzteschaft besonders schwer, auch auf sich selbst zu achten? MEDI hat mit dem Humanbiologen und Supervisor und Coach für kognitive Therapie Dr. Daniel Holzinger gesprochen. Er erzählt, warum die Gedanken und das Maßhalten eine ganz wichtige Kraftquelle sind.

MEDI: Wir sind aktuell alle emotional belastet, wie nie zuvor: zwei Jahre Pandemie und jetzt noch der Krieg in der Ukraine und Existenzängste. Was kann man tun, damit man nicht in eine dauerhafte Negativität und Hoffnungslosigkeit verfällt?

Holzinger: Sich auf die Fakten im Hier und Jetzt fokussieren. Glücklicherweise sind alle, die diese Zeilen lesen, bis jetzt nicht an Corona gestorben und vom Krieg in der Ukraine waren sie bis jetzt wahrscheinlich auch noch nicht direkt betroffen. Und ich hoffe für uns alle, dass das auch so bleibt. Wer sich aber mit seinen Grübeleien in die hypothetischen Katastrophen hineinsteigert, kann die ganze Kraft seiner Gedanken am eigenen Körper erspüren: Denn es macht für unsere körperlichen und emotionalen Reaktionen fast keinen Unterschied, ob wir uns in einer tatsächlichen oder in einer vorgestellten Katastrophe befinden. Wir verschwenden dann unsere wertvolle Energie und Lebenszeit für Existenzängste, und wir leiden unter unseren „ausgedachten“ körperlichen Stressreaktionen. Da die meisten von uns aber faktisch in guten Umständen leben, macht es mehr Sinn, sich mit den Fragen nach einem guten Leben in der Gegenwart und für die nähere Zukunft zu beschäftigen, als sich andauernd mit seinen vorgestellten Katastrophen auseinanderzusetzen.

MEDI: Arztpraxen sind durch die Pandemie seit zwei Jahren in einem Dauerstressmodus, und es geht weiter. Wie hält man das durch?

Holzinger: Dauerstress ist für niemanden gesund und irgendwann geht auch den Stärksten die Kraft aus. Deshalb ist es wichtig, regelmäßig Pausen zu machen. Damit man sich auch körperlich von der Dauerbelastung erholen kann, sollte der Urlaub mindestens drei, besser vier Wochen lang sein! Idealerweise verbringt man den Urlaub an einem Ort, an dem man die Seele baumeln lassen kann und sich nicht um tägliche Dinge wie Haushalt und Wäschewaschen kümmern muss – dann kann man wieder Kraft für die anstehenden Herausforderungen tanken.

MEDI: Obwohl gerade Ärztinnen und Ärzte genau wissen, wie sehr Stress belastet, vernachlässigen gerade sie häufig ihre eigene mentale Gesundheit. Warum?

Holzinger: Ärzte sind auch nur Menschen. Und in ihrem Studium lernen Ärzte auch heute noch häufig ausschließlich Fakten über anatomische oder biochemische Aspekte der mentalen Gesundheit – beispielsweise Details über vaskuläre Demenzen oder andere hirnorganische Störungen. Ihre Frage zielt aber auf den Teil der mentalen Gesundheit ab, der eine Folge des Denkens ist. Wenn ich Ihre Frage noch präziser formulieren soll, dann interessiert Sie der ungesunde Teil des Denkens, der Menschen tatsächlich psychisch krank machen kann. Warum vernachlässigen auch Ärzte ihre mentale Gesundheit? Einfache Antwort: Sie wissen häufig selbst nicht, wie sie ihre Gedanken steuern, wie sie mit ihrem Ehrgeiz, dem finanziellen Druck, der sozialen Verantwortung und den familiären Sorgen umgehen sollen. Viele Menschen gehen schlicht davon aus, dass sie ihren eigenen Gedanken ausgeliefert sind, dass sie für ihre Gedanken „nichts können“ und dass es eben eine Frage der Persönlichkeit, der Gene oder der Erziehung sei, wie sie denken. Heute wissen wir aber, dass das meist nur beitragende Faktoren sind und dass fast jeder lernen kann, wie man krankmachende Gedanken erkennen und ändern kann.

MEDI: Wie kommt man aus diesen Gedanken heraus?

Holzinger: Ärzte sollten sich selbst so wichtig nehmen, wie ihre Patienten. Häufig stellen sie sich selbst hinten an, um sich um die Patienten, die Familie und Freunde zu kümmern. Aus meiner Beobachtung schließe ich, dass Ärzte häufig ehrgeizig sind und in ihren jungen Jahren zu den überdurchschnittlich fitten und leistungsfähigen Menschen zählen. Manche glauben, ähnlich wie Sportler, dass sie unverwundbar sind und mehr aushalten können als der Rest.

Sie unterschätzen aber häufig selbst die Auswirkungen des Älterwerdens und so kann es sein, dass die Belastungen, die sie früher locker weggesteckt haben, sie heute überfordern. Aus diesem Schlamassel gibt es meiner Meinung nach nur einen eleganten Ausweg: Zu wissen, wie man seine Energie effizient einsetzt. Weniger arbeiten wäre eine Möglichkeit. Das können und wollen sich aber nicht alle leisten, weil das meist bedeuten würde, dass man auf etwas verzichten muss. Und wie wir alle wissen, ist Verzicht etwas, womit sich fast niemand auseinandersetzen möchte.

Der elegante Ausweg wäre also, nicht so viel Energie für grübelnde, katastrophisierende oder klagende Gedanken zu verschwenden. Wer in seinem Kopf Ruhe hat, kann diese wertvolle Energie für die Bewältigung der täglichen Aufgaben und die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen einsetzen. Denn Konflikte jeder Art, mit sich selbst oder mit anderen Menschen, kosten uns sprichwörtlich den letzten Nerv und die mentale Gesundheit.

MEDI: Was ist ein „gesundes Maß“ und wie findet man das?

Holzinger: Die Mäßigkeit ist eine Kardinaltugend, die nichts mit Sparsamkeit oder Geiz zu tun hat. Maßvoll ist derjenige, der nicht nur das finanzielle Maß findet, sondern auch das emotionale. Wer über seinen Verhältnissen lebt und mehr Geld ausgibt als er einnimmt, ist maßlos. Wer bei Kleinigkeiten – beispielsweise in einem Stau – ausflippt, ist in seiner emotionalen Reaktion maßlos. Wer in guten Umständen lebt und sich ständig mit seinen Untergangs- und Verarmungsfantasien beschäftigt, denkt auch maßlos – maßlos übertrieben. Das gesunde Maß ist also relativ. Für einen Multimillionär ist ein Urlaub für 50.000 Euro pro Woche vielleicht maßvoll, in meinem Fall wäre ein solch teurer Urlaub maßlos. Gedankliche oder emotionale Mäßigkeit kann man durch Bewusstheit und Übung erreichen.

MEDI: Gibt es einfache Übungen, die man im täglichen Praxis-Wahnsinn einbauen kann, um mental gesund zu bleiben?

Holzinger: Ach, die „einfachen“ Übungen funktionieren doch nicht. Wahrscheinlich sind viele von uns von diesen einfachen Übungen längst enttäuscht und genervt. Besser wäre es, sich das Wissen über die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen ganzheitlich anzueignen. Dann hätte man eine Chance das fast Unmögliche wahr zu machen: Herr über seine eigenen Gefühle zu werden und die Macht der Gedanken für ein gutes, erfülltes Leben zu nutzen.

Tanja Reiners

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