Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Entscheidung zum Streikrecht für Vertragsärzte abgelehnt hat, besteht nun die Möglichkeit einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Wir prüfen das derzeit und treffen dann eine Entscheidung“, erklärt Dr. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI GENO Deutschland und MEDI Baden-Württemberg. Er kämpft seit langem auch vor Gericht dafür, dass Niedergelassene streiken und ihre Praxen über einen längeren Zeitraum hinweg schließen dürfen. Zu der vor über zwei Jahren dazu eingelegten Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG jetzt beschlossen, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen.
Der Fall wurde zunächst vor dem Sozialgericht in Stuttgart, später vor dem Bundessozialgericht in Kassel verhandelt. Danach zog Baumgärtner weiter vor das Bundesverfassungsgericht und reichte dort seine Beschwerde ein. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht einen ablehnenden Beschluss gefasst und dabei ausgeführt, dass der Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme.
Für Ass.-jur. Frank Hofmann, Vorstand der MEDIVERBUND AG, ist die Begründung durch das BVerfG auch angesichts der über zweijährigen Bearbeitungszeit enttäuschend. „Wir haben den Eindruck, dass sich das Gericht nicht vertieft mit der Angelegenheit auseinandersetzen wollte“, sagt Hofmann. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war eine Disziplinarmaßnahme der KV Baden-Württemberg gegen Baumgärtner und einige weitere Kollegen, die während der Sprechzeiten ihre Praxis im Sinne eines Warnstreiks geschlossen hatten, um der Forderung nach einem anderen ärztlichen Honorarsystem Nachdruck zu verleihen. Die KV warf den Ärzten einen Verstoß gegen die für Vertragsärzte geltende Präsenzpflicht vor.
Das BVerfG konnte keinen Verstoß gegen Artikel 9 des Grundgesetzes erkennen. Dieses Grundrecht schützt zwar die Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Das Gericht ist aber offenbar der Meinung, dass nur gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen geschützt seien.
Ebenso hat das BVerfG keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass das Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit nach Artikel 12 des Grundgesetzes verletzt wurde. Zwar wurde die Frage, ob Arbeitskampfmaßnahmen in den Schutzbereich des Artikels 12 Grundgesetz fallen, ausdrücklich offengelassen. Obwohl dieser Gedanke hier auf der Hand liegt, hat dieser Gesichtspunkt für das Gericht keine Rolle gespielt, weil angeblich die vorgetragene Begründung zur Verfassungsbeschwerde unzureichend gewesen sei.
Deswegen möchte Baumgärtner vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.
Hier ist die Entscheidung des BVerfG nachzulesen:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/10/rk20191024_1bvr088717.html
Insbesondere der Abschnitt, der am rechten Rand mit “9” markiert ist, ist interessant:
“Hier ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer als „Warnstreik“ bezeichneten Schließung seiner ärztlichen Praxis um eine koalitionsmäßige Betätigung im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG handelte. Der bloße Hinweis darauf, dass er an zwei Tagen „zusammen mit fünf anderen Kollegen“ seine Praxis schloss, nachdem er zuvor der Beklagten gegenüber erklärt hatte, dass er damit das allen Berufsgruppen zustehende Streikrecht ausübe, reicht insofern nicht aus.”
Wenn ich es richtig verstanden habe, sieht das Gericht das Grundgesetz nicht tangiert, da die Aktion nur von wenigen Ärzten und nur für wenige Tage durchgeführt wurde. Das reicht dem Gericht wohl nicht aus, um als “Vereinigung” gemäß GG Art. 9 zu gelten. In den folgenden Abschnitten behandelt das Gericht die Kläger wie aufmüpfige Querulanten, die zu Recht von der KV gemaßregelt werden. Und da, wo es spannend wird, bricht das Gericht ab (Abschnitt 17):
“… Ob Arbeitskampfmaßnahmen in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fallen, hat das Bundessozialgericht in der angegriffenen Entscheidung offengelassen. Zwar hat auch das Bundesverfassungsgericht über diese Frage noch nicht ausdrücklich entschieden. Dies entbindet den Beschwerdeführer aber nicht von jeglicher Darlegungslast.”
Gerade darum geht es doch! Und für diesen Text braucht das Gericht zwei Jahre – das ist schon enttäuschend – aber es sollte eine Lehre sein, bevor es nach Straßburg geht: Es braucht eine gute Begründung, warum dieser eher symbolische Streik zu behandeln ist wie eine flächendeckende Arbeitsniederlegung vieler Niedergelassener. Und warum es zu diesem Punkt eine ordentlich begründete Rechtsprechung braucht, bevor “richtige” Streiks möglich werden können.